von Patricia » 6. Mai 2012, 03:48


Ich dachte, wenn ich nur oft genug „Leben“ schreibe,
„Leben, Leben,Leben“
dann ist und bleibt es Leben.
Irgendwas kritzel ich ja immer,
während ich telefoniere oder so.
Leben ist ein schönes Wort,
es schreibt sich in schönen Bögen.
Ich spiele, wenn ich „Leben“ schreibe,
dieses schöne Wort,
dann bleibt es.

Dann bleibt Leben Leben.

Liebe Wil, ich mache jetzt nicht mehr
Worte schmutzig als nötig.
Ich weine auch nicht mehr
Tränen als nötig.
Aber wieviele Worte und Tränen
sind gerade so nötig,
dass es nicht zuviel wird?

„Ich liebe dich“ reicht vielleicht.
Damit wär alles gesagt.
Aber was ich noch sagen wollte:
„Ich liebe dich so sehr,
dass du es dir gar nicht vorstellen kannst!“
Dich
und mir dir zusammenzusitzen,
Fernsehn zu gucken,
wo sie immer alles extra machen,
um uns Zuschauer in geballter Spannung
zu halten,
in Echt stimmt das ja alles gar nicht.
Ich werde nie, nie vergessen,
wie du dich kaputtgelacht hast,

was haben wir immer gelacht!
Und am Ende, wenn ich dann
gegangen bin,
haben wir alles gelacht,
was es zu lachen gibt.
Morgen lachen wir weiter!

Ich habe immer gewusst,
dass du älter bist als ich.
44 Jahre bist du älter.

Du hattest letzten Dienstag Geburtstag
und wurdest 85,
aber den hast du gar nicht mehr richtig
mitgekriegt.

Seit einem Jahr willst du sterben.
Oder vielleicht schon länger?

Eigentlich habe ich ja nun wirklich
ein Jahr oder länger Zeit gehabt,
mich daran zu gewöhnen,
dass du irgendwann nicht mehr da bist.

Mit dir zusammenzusitzen,
in deinem Wohnzimmer, im Kerzenlicht,
leiser Musik im Hintergrund,
eifrig diskutierend über Gott und die Welt und
-mir fiel heute das Wort nicht ein,
wie hiess dass nochmal?
Philosophie und Religion,
ach ja, Theosophie.

Wil, ich danke dir
dass du in meinem Leben bist
dass ich dich kennenlernen durfte,
deine Freundin sein darf.
Du bist alles für mich,
meine Oma, meine Mutter,
meine beste Freundin,
du bist alles!

Ich denke jeden Tag an dich
Und bin jeden Tag bei dir.

Heute habe ich dich auf deine Wange
geküsst
und deine Lider zuckten.
Ich habe dir ins Ohr gesagt,
dass ich dich liebe
und du hast deinen Kopf bewegt.

Ich komme morgen wieder
um 14 Uhr
und werde dir noch mehr Sachen
ins Ohr sagen und
deine Wange streicheln und küssen
und ich werde noch viele
Worte schmutzig machen.
Ja, ich weiss, eigentlich brauche ich das nicht,
du weißt schon, was ich meine.
Du weißt immer, was ich meine.
Und ich weiss immer, was du meinst,
wenn dir das deutsche Wort nicht einfällt.

Wartest du noch mit dem Sterben?
Wenigstens bis morgen?

Ich möchte noch ein bisschen
bei dir sitzen.
Nur noch ein bisschen.
Ich möchte in dem Sessel sitzen,
dumpf in Katalogen blättern,
mir die Bilder angucken
und immer zu dir schauen
und deinen Schlaf bewachen.
Schläfst du, Will?
Wo bist du?
Du bist ganz nah
Und gleichzeitig schon ganz weit weg.

Weißt du, dass ich schonmal
deinen Schlaf bewacht habe?
Vor einigen Jahren, wann war das nochmal,
als du das Bewusstsein verloren hattest
und ich dachte,
du wirst gar nicht mehr wach?
Ich habe die ganze Nacht an
deinem Bett gesessen,
dem Ticken der Uhr zugehört
und auf dich geachtet,
dass dir nichtss passiert.

Ich habe nie gedacht, dass ich das mal für jemanden mache,
aber ich habe auch nie gedacht, dass ich mal so einen Menschen
wie dich
treffen werde.
Du!

Bleibst du noch ein bisschen?
Wil, wir haben darüber gesprochen, dass du mich besuchst,
wenn du tot bist.
Wir haben gelacht und es uns vorgenommen.
Dass wir in Verbindung bleiben.
Jetzt habe ich auf einmal
Angst.
Was ist, wenn das gar nicht stimmt
mit unseren Theorien vom Tod?
Aber wenn du dann tot bist,
nicht mehr da bist,
wo bist du dann?
Wohin gehst du?

Aber sei bitte morgen noch da, bitte!
Ich bin noch nicht soweit.
Ja, du sagst, man ist nie soweit.
Ich glaube, du bist jetzt soweit.
Aber ich nicht!

Ich wünsche dir, dass du glücklich bist,
da, wo du hingehst.
Dass du alle triffst, die du liebst, die schon dort sind!
Du hast gestern nach deinem Papa gerufen
Und L. hat erzählt, dass du auch nach deiner Mama rufst.

Ich wünsche dir,
dass sie da sind und dich empfangen
und du glücklich bist!

Aber ich,
ich sehe dich dann nicht mehr.
Ich weine darüber.
Aber sei morgen noch hier, ja?

Ich möchte noch einmal mit dir zusammensitzen.
Und M. kommt morgen aus Griechenland zurück,
wartest du noch eben auf sie?
Sie möchte dich auch noch sehen!

Ich bin noch nicht soweit,
jetzt, augenblicklich, heute.
Aber ja, du hast Recht:
Ich wär nie soweit!

Abschied ist immer schwer.
Wenn du gehst, liebe Wil,
wisse, dass ich dir meine Liebe mitschicke!
Und eine Träne von mir!
Du!
Wir hatten es schön zusammen!
Danke, dass du für mich da warst.

von Patricia » 6. Mai 2012, 03:56

Als ich am nächsten Morgen ans Telefon ging,
stand auf der Digitaluhr am Hörer 09:07.
Es war L.
„Wil ist gestorben“, sagte sie.
Ich hielt inne.
Sie erzählte, wann und wie sie es gesehen hat,
dass die Ärztin kam und dies und das.

Wir redeten lange
und schwiegen lange miteinander.
Nach gefühlten 20-25 Minuten legten wir auf.
Die Digitaluhr zeigte: 09:11.

Ein Zeitloch.
Ich bin in ein Zeitloch gefallen.

Zeit hat nichts mit Emotionen zu tun.

Ich habe heute bei REAL auf einer Deko-Kugel
einen Satz gelesen:
„Zeit ist wichtiger als Gold“.
Nein, stimmt nicht.
Zeit ist unwichtig und Gold auch.
Was ist Zeit überhaupt?

Ich ging ins Bad und wusch mit die Hände.
Als ich zum Seifenspender griff, dachte ich,
wie profan diese Handlung ist,
wo doch Wil gestorben ist.

Ich reihte mich mit dem Wagen in den Verkehr ein
und wunderte mich darüber,
dass draussen alles so ist wie immer,
wo doch Wil gestorben ist.

Bei allem, was ich tue,
muss ich immer daran denken,
dass doch Wil gestorben ist.

von Patricia » 6. Mai 2012,

Meine Bitte, noch wenigstens kurz zu bleiben, hat sie nicht mehr erreicht.
Sie ist in der Nacht gestorben.

Das war gestern vor 3 Jahren.

von Ghostrider XI » 7. Mai 2012, 03:14

ich habe keine Worte dafür.

Kann nicht.

Es ist... weiß nicht.


Pat, du bringst einen alten Mann zum Weinen


Kann ich jetzt noch "herzliches Beileid" sagen, wenn ihr Tod 3 Jahre her ist?
Herzliches - ja, absolut von Herzen.

Mein Gott...

Gruß, Ghostrider der XI.
Forum-Moderator

von ojenny » 17. Mai 2013, 23:36

Nabend Pat!

Dieser Text ist so traurig. Nein, ergreifend meinte ich. Er spricht mir sehr aus der Seele.
Es tut mir leid, dass Wil, die Dir so viel bedeutet, schon gegangen ist. Ich kann Dir diesen Verlust gut nachfühlen.

Ich hoffe, dass Deine Trauer bald einer liebevollen und dankbaren Erinnerung an diese besondere Frau weichen konnte.

Liebe Grüße,
ojenny

von Patricia » 18. Mai 2013, 04:27
Hallo ojenny,

ich vermisse sie natürlich noch, aber ich bin nicht mehr so betäubt vor Traurigkeit.
Wir hatten einen gute Zeit zusammen und ich bin echt dankbar, dass sie in meinem Leben war. Und ich denke gerne an sie.


Viele Grüße, Pat

von ojenny » 18. Mai 2013, 16:20
Hi Pat,
das ist schön. So soll es ja auch sein.
Das schmerzliche Vermissen zeigt doch, wie wertvoll das war, was man haben durfte.
Liebe Grüße,
ojenny

on Weltenbummler » 19. Mai 2013, 14:57
Herzliches Beileid, liebe Pat!

Viele Grüße,
der Weltenbummler

von Parafreak » 23. Aug 2013, 16:54
Hi,

das ist da traurigste Gedicht, wenn man es so nennen kann, was ich bisher gelesen habe.


Was ich besonders interessant finde, ist dieses Zeitloch!

Patricia hat geschrieben:
Zeit hat nichts mit Emotionen zu tun.

Ich habe heute bei REAL auf einer Deko-Kugel
einen Satz gelesen:
„Zeit ist wichtiger als Gold“.
Nein, stimmt nicht.
Zeit ist unwichtig und Gold auch.
Was ist Zeit überhaupt?



Richtig.
Aber ich glaube, dass man mit dem Spruch meint, man solle sich Zeit nehmen für wichtige Menschen zum Beispiel, daher ist dann Zeit wichtiger als Geld.

Mit Emotionen hat Zeit nichts zu tun, stimmt.

von Serafina » 17. Dez 2013, 00:26

Bin beim Lesen durch's Forum hier gelandet...
Die Worte dieses Threads haben mich tief berührt! Es tut mir sehr leid, liebe Pat!
Alles Liebe... Serafina

von Freidenker » 22. Dez 2013, 16:11

Danke, dass du es noch mal hochgeholt geholt hast, Serafina!
Ein sehr berührender Text!

Das mit dem Zeitloch finde ich jetzt besonders interessant! Da sieht man mal, wie relativ doch die Zeit für die einzelne Seele ist.


denkt frei,
euer Freidenker!

Hallo Pat,

ist das echt wahr so?
Du schreibst sehr gut.